Finden, wonach man nicht gesucht hat

Coworking-Space im Kirchenweg: Vom Fischgeschäft zum Modell der neuen Arbeit

Carmen Eisenacher (rechts) vom Open-Campus-Kooperationspartner, der Hochschule für Technik und Berlin leitet Swantje Reher im Umgang mit der 3-D-Brille an. Das kleine Labor wurde ebenso wie der mobile Coworking-Container von Jean-Pierre Jacobi extra zur Eröffnung des neuen Büros im Kirchenweg aufgebaut.
Carmen Eisenacher (rechts) vom Open-Campus-Kooperationspartner, der Hochschule für Technik und Berlin leitet Swantje Reher im Umgang mit der 3-D-Brille an. Das kleine Labor wurde ebenso wie der mobile Coworking-Container von Jean-Pierre Jacobi extra zur Eröffnung des neuen Büros im Kirchenweg aufgebaut.

Gaarden. Im Jahr 1915 eröffnete im Kirchenweg 22 eine Fleischerei, 1979 zog ein Fischgeschäft ein, später folgten vom Sozialladen über ein Geschäft für speziellen Raucherbedarf bis zum aufs Freuen und Teilen zielenden „Glückslokal“ vielerlei Nutzungen. Wenn alles gut geht, könnte jetzt wieder eine stabile Ära folgen: Der Kirchenweg 22 ist zum Coworking-Space geworden.

Sich einen Raum teilen, möglichst unterschiedliche Qualifikationen darin vereinen und aus dem Zusammenwirken aller Beteiligten Neues, im Idealfall Besseres entstehen lassen: So in etwa geht die Philosophie des Coworking. Der Bildungsträger Open Campus übt sich an diesem Modell bereits im Wissenschaftszentrum nahe der Uni Kiel. Zwar mit großem Zulauf, wie Campus-Mann Alexander Ohrt sagt, aber auch mit dem nicht wirklich erwünschten Effekt, dass sich ganz überwiegend Leute finden, die ohnehin ähnlich ticken. „Wir wollen aus unserer studentischen Blase heraustreten“, begründet Ohrt, weshalb sich das Projekt jetzt neben dem kuschelig-akademischen Westufer ein weiteres Standbein auf dem rustikalen Ostufer gesucht hat.

Als am Sonnabend der neue Coworking-Space im Kirchenweg offiziell an den Start ging, hoben etliche Akteure ihre Verdienste an dem Projekt hervor. Was zwar irgendwie stimmt, aber auch ein bisschen darüber hinwegtäuscht, dass ganz im Sinne des Coworking-Gedanken erst eine sehr heterogene Allianz zu dieser Eröffnung führte. Das Wirtschaftsbüro und die Hausbesitzer-Initiative „Wohnwert Gaarden“ dachten über die Wiederbelebung leerer Läden durch Kreativwirtschaftler oder kleine Handwerker nach, der Kultur- und Kreativrat Gaarden übernahm die Mittlerrolle zwischen Eigentümern und Interessenten, nicht zuletzt fanden sich aber über den Tellerrand hinaus schauende Vermieter. Axel Ladwig zeigte und zeigt sich sehr entgegenkommend und stellt das Erdgeschoss im Kirchenweg 22 weit unter dem Marktpreis zur Verfügung. Nicht für alle Ewigkeit, aber für die sensible Startphase. Und mit der Absicht, statt Imbiss oder Gemüseladen eine Nutzung zu schaffen, die das Haus wie das gesamte Umfeld ein Stück weit aufwertet.

In der Räucherei haben die vielen Gäste bei der Eröffnung des Coworking-Spaces im Kirchenweg über die kreativen Potenziale von Gaarden gefachsimpelt.
In der Räucherei haben die vielen Gäste bei der Eröffnung des Coworking-Spaces im Kirchenweg über die kreativen Potenziale von Gaarden gefachsimpelt.

Pioniere des neuen Coworking sprachen den Kielern am Sonnabend reichlich Mut zu. Tobias Schwarz vom Café Oberholz in Berlin ist so etwas wie ein Star der Szene, unter anderem deshalb, weil aus dem Haus am Rosenthaler Platz berühmte Startups wie die Musiktausch-Plattform Soundcloud hervorgingen. Auch lädt man ihn deshalb gerne ein, weil er schöne Sätze sagen kann. „Coworking kann man nicht studieren“ zum Beispiel, oder: „Es geht darum, etwas zu finden, wonach man nicht gesucht hat.“

Der Standort Gaarden, so sieht es Schwarz, hat jedenfalls Potenzial, gerade auch deshalb, weil dort nicht alles geleckt ist, weil nicht die Gleichen unter Gleichen das Klima prägen. Ähnlich, so merkt Schwarz an, war es auch mal, als sich vor mehr als zehn Jahren die digitale Boheme im Oberholz einrichtete. Heute sind die Mieten hoch, und statt Gemüseläden gibt es sündhaft teure Boutiquen. „Auf den Weg machen und rechtzeitig anhalten, damit ihr immer noch cool seid“, lautet Schwarz’ Rat an die Gaardener.

Einfach und irgendwie ziemlich cool sind die Arbeitsplätze im neuen Coworking-Space.
Einfach und irgendwie ziemlich cool sind die Arbeitsplätze im neuen Coworking-Space.

Wobei die gegenwärtig weit entfernt von diesem Problem sind. Erst einmal geht es darum, den Coworking-Space Kirchenweg 22 ans Laufen zu bringen. Nicht als Projekt, sondern „nach Möglichkeit auf Dauer“, wie Jonas Barth von Open Campus hervorhebt. Zweckmäßig, ein bisschen wohnlich und irgendwie ganz schön cool haben die Campus-Leute ihre neuen Räume in eigener Arbeit und mit wenig Geld hergerichtet, Arbeitsplätze können stundenweise oder dauerhaft gemietet werden, abends und an Wochenenden sind die kompletten etwa 80 Quadratmeter auch für Seminare und andere Veranstaltungen zu haben.

Die Preise legt Open Campus nach dem Solidarprinzip fest, damit auch jene, die ganz am Anfang stehen, ihren Raum finden. Wobei sich der finanzielle Faktor ohnehin in Grenzen hält. Gelingt es, zehn Coworker zu gewinnen, reicht selbst bei voller Miete pro Kopf ein zweistelliger Betrag im Monat aus.

Geöffnet ist der Kirchenweg 22 von heute an montags bis freitags von 12 bis 18 Uhr, erste Nutzer sind bereits an Bord, und zusätzlich richtet sich gerade im separaten Hinterhofgebäude eine Künstlerin ihren Arbeitsplatz ein.

Mehr Informationen unter www.opencampus.sh
Text und Fotos: Martin Geist